Nicht ausgrenzen, sondern austauschen
Wie tief die gesellschaftliche Spaltung reicht, verdeutlicht die Antwort eines Mannes an einen Freund, der – gefangen im allgemeinen Angstszenario – kein Verständnis für ihn und seinen Demo-Besuch aufbringen konnte. Für den im „Mainstream“ Verwurzelten sind alle Demonstranten der Nächstenliebe nicht fähig.
Lieber Julian,
warum schreibe ich Dir und stelle mich nicht einfach auf den Standpunkt "Wir sind halt unterschiedlicher Ansicht"? Weder will ich Dich überzeugen noch mich rechtfertigen. Und doch ist es mir ein Anliegen darzulegen, was mich zur Demoteilnahme in Kassel bewogen hat und welche Gedanken mich seit Monaten begleiten. Zunächst etwas Grundsätzliches:
Erstens ist die Teilnahme an einer Demonstration gerade in Krisenzeiten Teil demokratischer Kultur und Selbstverständnisses. Zweitens erleben wir Grundrechtseinschränkungen, deren Ausmaß beispiellos ist. Drittens wird zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik versucht, mit politischen Maßnahmen eine Infektionskrankheit zu bekämpfen. Und als letzter Punkt seien Lock- und Shutdowns genannt, die man sonst nur in Diktaturen findet.
Alles schon mal erlebt
Vergangenen „Krisen“ wie Vogelgrippe, EHEC oder SARS-1 konnte ich aufgrund meines Naturells mit Gelassenheit begegnen. Diese behielt ich auch im Januar 2020, als von SARS-2 berichtet wurde. Die einzige Sorge galt der Dauerberieselung, die es bis zum nächsten Medien-Highlight auszuhalten und dann zu vergessen hieße. Jedoch: SARS blieb, und der erste Shutdown machte mir obendrein einen Strich durch meine USA-Reisepläne. Trotzdem fand ich das auch seltsam spannend. Plötzlich kam die ganze Welt durch Lock- und Shutdowns zum Halten.
Zuerst wurde die Einschränkungs-Aufhebung von der Verdoppelungszahl abhängig gemacht, und als diese den gewünschten Wert erreicht hatte, wurde der r-Wert bemüht. Hinweise, dass dieser bereits zu Beginn des Shutdowns erreicht war, tat ich als Verschwörungstheorie ab.
Dann brachten mich zwei Dinge ins Grübeln. Zum einen ein aus dem Bundesinnenministerium geleaktes Strategiepapier, in dem das Ziel eine Schockwirkung zu erreichen, definiert war. U.a. sollte dies mit Verweis darauf, wie sich Kinder fühlten, die am Tod ihrer Eltern schuld seien, erreicht werden. Wie im Februar 2021 auf welt.de und focus.de berichtet wird, war das Papier nicht etwa Ergebnis einer offenen Diskussion, sondern es wurde eine Ausarbeitung explizit angefordert, die präventive und repressive Maßnahmen rechtfertigen würde.
Zweitens wurde diskutiert, inwiefern die Bedeckung von Mund und Nase helfen könne, die Verbreitung des SARS-CoV-2 zu verlangsamen. Die Ministerpräsidentenkonferenz empfahl(!) dies im Handel und im öffentlichen Nahverkehr, und obwohl viele Verantwortliche einer Maskenpflicht angeblich ablehnend gegenüberstanden, führten genau diese Politiker einen Tag später die Maskenpflicht ein – bei weiter sinkenden Infektionszahlen.
Ich verstand die Welt nicht mehr; nur wenige Monate zuvor galten Maskenträger noch als Anhänger einer Verschwörungstheorie, und Vorsicht vor dem Virus wurde in den Medien abgetan, kritisiert oder lächerlich gemacht, so z.B. in der heute-show, Monitor oder in der BR-Satiresendung „quer“ im Januar 2020. Nun hatte sich der Wind also gedreht und Masken mussten getragen werden.
Regte ich mich darüber auf, wurde mir nur entgegnet, dass es doch wohl nicht so schlimm sei, kurzzeitig eine Maske aufzusetzen. Im Freien kam zum Glück niemand auf die Idee Mundschutz zu tragen, und auch bei der Arbeit musste niemand eine Maske aufsetzen. Selbst die Bundeskanzlerin war erst nach einer Pressekonferenz im Juni, bei der sie nach ihrer Maske gefragt wurde, mit solch einer Mund-Nase-Bedeckung zu sehen.
Gleichzeitig engten sich Berichterstattung und Debattenräume ein. Und jeder kritisch denkende, fragende oder gar demonstrierende Mensch wurde zum Gefährder. Also sollten Freunde meiner Mutter, die am 1. August in Berlin gewesen waren und die ich eher links/grün verorte, rechtsradikal und anderes Schlimmes sein? Unmöglich!
Hippies statt Nazis
Von Neugier geprägt fuhr ich Mitte August zur Hamburger Querdenken-Demonstration. Ich wollte sehen, ob es wirklich ein Neonazi-Sammelbecken wäre. Etwa 1000 Leute waren auf dem Jungfernstieg, und ich fühlte mich beinahe wie auf einer Versammlung von Alt-68ern, wäre nicht der militaristisch klingende Sprechchor der „Antifa“ mit ihren „Masken auf!“-Schreien. Weniger die Botschaft als das Auftreten bereitete mir ein mulmiges Gefühl. Ein an die „Antifa“ ausgesprochenes Angebot, auf der Bühne zu sprechen, wurde nicht angenommen. Von der unangenehmen Atmosphäre, die diese schwarz gekleideten Gestalten ausstrahlten, abgesehen, konnte ich weder eine aggressive Stimmung noch irgendwelche rechten Symbole oder Fahnen entdecken. Wäre irgendwo eine schwarz-weiß-rote Flagge oder gar ein Hakenkreuz zu sehen gewesen, ich wäre sofort gegangen.
Im Verlauf des Jahres wurde der Diskurs immer enger, kritische Stimmen kamen kaum noch vor. Die mediale Aufmerksamkeit basierte fast nur noch auf bestimmten „Narrativen, die noch immer unverändert transportiert werden.
So wird zum Beispiel eine Positivtestung mit einer SARS-2-Infektion gleichgesetzt, was wiederum als an Covid-19 erkrankt fehlinterpretiert wird. Und diese Zahl der Positivtestungen ist laut Narrativ die wichtigste Kennzahl in der Pandemie. Eine dritte Erzählung lautet: Lockdowns helfen, und je mehr und stärker, desto besser. Als viertes werden gern die Impfungen als einziger Ausweg bemüht. Und zuletzt wird fantasiert, dass eine Virusmutation eine negative Entwicklung sei.
Alternative Ansichten – selbst von Wissenschaftlern – werden kaum diskutiert. So werden die Studien von John Ioannidis genauso ignoriert wie die Thesenpapiere von Matthias Schrappe. Weitere renommierte, jedoch wenig beachtete Persönlichkeiten sind Hedwig François-Kettner, Matthias Gruhl, Dieter Hart, Franz Knieps, Philip Manow, Holger Pfaff, Klaus Püschel und Gerd Glaeske sowie Ulrike Kämmerer. Selbst Stellungnahmen des Netzwerks für evidenzbasierte Medizin werden ignoriert. Gleichzeitig werden Fragen weder gestellt noch beantwortet, die aber aus meiner Sicht dringend geklärt werden müssen. So gab es etwa im Oktober 2020 eine Studie, die besagte, dass von 7324 Infektionen nur zwei an der frischen Luft stattfanden. Dennoch postulierte Markus Söder im Herbst letzten Jahres: „Mehr Maske, weniger Party, weniger Alkohol“.
Geht es hier um die Sache? Welchen Sinn hat es, wenn der Bachchor im Sitzen, nicht singend, eine Maske trägt, aber im Stehen, singend, diese abnimmt? Worum geht es wirklich? Was macht es mit einer Gesellschaft, wenn jeder jeden als potentielle Gesundheitsgefahr ansehen soll? Warum haben andere Länder mit weniger rigiden Maßnahmen ähnliche Werte hinsichtlich Positivtestungen und Verstorbenenzahlen wie bei uns?
Nun sind wir hier, im Frühjahr 2021. Die Leitzahlen, die uns seit einem Jahr begleiten, sind selten hoffnungsvoll, häufiger deprimierend. Im Diskurs um die Maßnahmen geht es nicht um die Sinnhaftigkeit, sondern darum, wie hart der Shutdown zukünftig sein muss und ob wir bundesweite Ausgangssperren benötigen oder ob es lokal reicht.
Ist die rigide Einschränkung von Grundrechten die einzige Möglichkeit, auf ein Virus zu reagieren? Ich denke nicht. Ich bin der Ansicht, dass es andere Möglichkeiten gibt, eine Gefahr für unsere Gesundheit abzuwenden.
Ich bin aber auch der Ansicht, dass Gesundheit mehr ist als nur die Abwesenheit von Krankheit. So gehören für mich gesunde Seele und gesunder Körper eng zusammen, jedoch gehen alle Menschen unterschiedliche Wege, um gesund zu bleiben. Doch seien wir ehrlich, häufig genug ignorieren wir dies durch zu wenig Bewegung und falsche Ernährung. Aber es ist unsere Entscheidung, was wir tun und was wir lassen.
Mir fällt es sehr schwer, auf Musik zu verzichten, und mir fehlen Gottesdienste, Freundinnen und Freunde, Umarmungen und Gemeinschaftserlebnisse. Webcam und Zoom/ Skype usw., können das nicht ersetzen. Mir fehlt der Gesichtsausdruck meiner Mitmenschen. Mir fehlt meine Schwiegerfamilie. Mir fehlt die offene Diskussion, die wir so bitter nötig hätten. Vor allem will ich keine Angst haben müssen, meine Meinung zu äußern, und wir sollten in dieser Debatte aufhören Schlagworte wie Nazi oder Corona-Leugner zu verwenden.
Doch nun zum eigentlichen Thema: die Demo in Kassel am 20. März 2021. Die Veranstaltung in Hamburg war bisher die einzige Veranstaltung dieser Art gewesen, die ich je besucht hatte. Doch die von mir beschriebene Entwicklung hat dazu geführt, dass ich einfach nicht mehr daheim auf der Couch bleiben konnte. Ich wollte und will demonstrieren für eine offene Debattenkultur, für einen anderen Umgang mit und in der Corona-Krise, für die Erhaltung der Dinge, die uns lieb und wert sind.
Also habe ich mich auf den Weg gemacht. In Kassel habe ich eine völlig friedliche Stimmung erlebt – lachende, glückliche Menschen, die Plakate richteten sich gegen Impfzwänge, Maskenpflichten in Schulen, Zwangstestungen usw. Ich habe kein einziges rechtsextremes Transparent gesehen. Sicherlich gab es auch Darstellungen, die ich nicht gewählt hätte. Bill Gates etwa ist für mich kein Hassobjekt – höchstens wegen Windows 8. Ich habe keine Angst vor 5G. Aber wenn man auf einer Großdemonstration ist, findet man immer Dinge, die man sich nicht zu eigen machen würde.
Natürlich kann ich nicht sagen, ob nicht doch Rechte auf der Demo waren; das kann ich aber nirgends. Ich kann auch nicht sagen, ob es im Bachchor heimliche AfD-Wähler gibt. Fakt ist: das Thema in Kassel war kein rechtsextremes und ich habe keine rechtsextremen Parolen gesehen oder gehört. Die einzigen Rufe waren: „Frieden, Freiheit, Demokratie“ oder „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Freiheit klaut“. Es war eher wie in Hamburg, nur ausgelassener: eine fröhliche Stimmung, quer durch alle Altersgruppen. Gut, einige waren leicht esoterisch angehaucht … sollen sie. Die meisten waren Menschen wie du und ich. Auch die Leugnung von SARS-2 habe ich weder akustisch noch optisch vernommen. Für mich ist klar, dass ich an keiner Demonstration oder Veranstaltung teilnehme, die rechts-(oder links-)extrem geprägt ist oder auf der verfassungsfeindliche Symbole sichtbar gezeigt werden. Ich bin da strenger als der Berliner Innensenator Geisel, der 2017 im Vorfeld zur „Unteilbar-Demo“ in Berlin sagte, dass er keine Probleme habe, mit Extremisten zu demonstrieren (Quelle: morgenpost.de).
Auf dem Rückweg las ich die ersten Berichterstattungen … und fragte mich, ob es wohl noch ein zweites Kassel mit einer anderen Demo gäbe. „Querdenker-Demo in Kassel eskaliert“ las ich etwa beim Deutschlandfunk, die Bild titelte „Polizei stoppt Randale-Mob in Kassel“ und die Fuldaer Zeitung wählte „Gewalt bei Demo in Kassel – Polizei setzt Wasserwerfer, Pfefferspray und Schlagstöcke ein“ als Headline.
Ich habe dort in Kassel Menschen getroffen, die die christliche Botschaft hinsichtlich Nächstenliebe und Barmherzigkeit mit mir teilen. Barmherzigkeit gegenüber den Alten, die wir in den Pflegeheimen eingeschlossen haben. Nächstenliebe zu ihren Kindern, die mit anderen Kindern toben, raufen, spielen, tanzen sollen. Fürsorge für jene, die in der aktuellen Situation kaputt gehen und an ihr zu zerbrechen drohen. Zweifelhaft empfand ich die Veranstaltung nicht, wohl aber die Art, wie über sie berichtet wurde.
Danke an die Polizei
Offenbar kam es auch zu unschönen Szenen, die ich zutiefst verurteile, obwohl ich keine beobachtet habe. Doch muss es möglich sein zu fragen, ob man diese grässlichen Szenen als beispielhaft für die Veranstaltung darstellen muss, wo diese doch überhaupt nicht beispielhaft waren. Daher schrieb ich nach der Demo einen Brief an die Polizei in Kassel, in dem ich mich für ihre Arbeit bedankte, die alles andere als einfach war und ist.
Im Nachgang gab es weitere Berichte, die so bezeichnend für unsere Zeit sind. Auf einem Foto zeigt eine Polizistin einer besorgten Mutter ein Herz. Daraufhin kochte die öffentliche Meinung hoch – wie konnte diese Polizistin nur ihre politische Neutralität so verletzen. Sicherlich ist das ein schwieriges Feld; die Polizei hat die vorderste Aufgabe dafür zu sorgen, dass eine Demonstration stattfinden kann, darf sich ihr Anliegen aber weder zu eigen machen, noch ihre Ablehnung zeigen. Aber dann dürften Polizisten auf einer Black-Lives-Matter-Demo auch nicht knien.
Ich komme zum Schluss. Das Bild, das in der Öffentlichkeit von der Demo in Kassel gezeichnet wurde, unterscheidet sich von meinen Erlebnissen. Ich kann dich jedoch verstehen, dass du bei den Bildern und der Berichterstattung nicht verstehst, wie ich an so etwas teilnehmen konnte.
Man kann die gegenwärtige Situation anders bewerten als ich – und viele, inklusive meines Freundeskreises, tun dies. Ich denke nur, dass eine Gesellschaft andere Meinungen aushalten muss, ohne gleich alle als Leugner, Extremisten, Aluhüte oder Verschwörungstheoretiker zu bezeichnen. Das mag sich gut anfühlen, vergiftet aber die Debatte.
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